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Geistige Entwicklung als sonderpädagogischer Förderschwerpunkt

Kinder und Jugendliche mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt Geistige Entwicklung zeigen je nach Lebenszusammenhang ihren Unterstützungsbedarf auf höchst unterschiedliche Art und Weise (KMK, 2021). In der Regel sind sie schon vorschulisch mit der Diagnose einer geistigen Behinderung oder komplexen Behinderung konfrontiert und befinden sich meist seit frühester Kindheit in medizinischer und therapeutischer Behandlung. Der Unterstützungsbedarf zeigt sich in verschiedenen Entwicklungsbereichen – im Besonderen in der Kognition, in der Kommunikation, in der Motorik und in der Sozialentwicklung. Sie erleben erhebliche Einschränkungen im Bereich der adaptiven Fähigkeiten in den drei Dimensionen kognitiv-kommunikative, praktische und soziale Kompetenzen. „Die Heterogenität der Schülerschaft im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung reicht von Kindern und Jugendlichen mit sehr komplexen Behinderungen bis zu Schülerinnen und Schülern, deren Kompetenzen sich im Grenzbereich zum sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen bewegen.“ (KMK, 2021, S. 10) Schülerinnen und Schüler, die einen sogenannten sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung haben, werden zieldifferent unterrichtet. Die Grundlage hierfür bilden der Lehrplan zur individuellen Lebensbewältigung sowie der sonderpädagogische Förderplan.

Wie kann gemeinsamer Unterricht gelingen?

Eine wichtige Aufgabe ist die Verständigung unter Wahrung der Selbstbestimmung. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Schülerin oder der Schüler nicht verbal kommuniziert. Mit ihr oder ihm in Kommunikation zu kommen, sich über nonverbale Wege, Symbole und Zeichen zu verständigen, das ist eine notwendige Voraussetzung für das Lernen im gemeinsamen Unterricht. Insbesondere gilt es zu klären, wie sich diese Schülerinnen und Schüler selbst bemerkbar machen und so aktiv am Lerngeschehen und am Miteinander in der Lerngruppe (Klasse) teilhaben können. Erfolgreiches Kommunizieren braucht eine klare und verständliche Sprache. Unterstützen können dabei insbesondere

  • die Verwendung von einfachen Sätzen und Texten in leichter Sprache (siehe dazu: http://www.menschzuerst.de) sowie andere, entwicklungsangemessene Darstellungsformen (Fotos, Illustrationen, Gegenstände, Gesten),
  • der Aufbau und das Nutzen von Routinen, transparenten Strukturen und Ritualen,
  • die gebärdenunterstützte Kommunikation,
  • die Verwendung eines Sprachcomputers oder Talkers.

Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Schwerpunkt Geistige Entwicklung benötigen in ihrem Aneignungsprozess zudem Lernangebote insbesondere im Bereich der basalen, elementaren oder primären Bildung. Auch wenn sie sich in einem anderen Modus der Aneignung bewegen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, können sie sich mit dem gleichen Lerngegenstand auseinandersetzen.

Das gemeinsame Lernen mit gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen, deren Handlungen sie nachahmen können, unterstützt den Erwerb adaptiver Kompetenzen in besonderer Weise. Besonderes Augenmerk ist dabei zu richten auf

  • die Aktivierung mehrerer Wahrnehmungsbereiche,
  • die Beachtung des persönlichen Lerntempos sowie die Durchhaltefähigkeit sowie
  • das Anknüpfen an die Interessen und Vorlieben der Schülerinnen und Schüler (KMK, 2021).

Darüber hinaus empfehlen sich weitere, für die Gestaltung des gemeinsamen Unterrichts und einer inklusionsorientierten, auf Partizipation ausgerichteten Schulkultur geeignete und auf Selbstbestimmung abzielende Ansätze.

Empowerment

Die Empowerment-Philosophie (siehe dazu: https://www.isl-ev.de/index.php/aktuelles/projekte/empowerment-schulung/empowerment-bedeutet) wertschätzt und achtet, dass alle Menschen über Kompetenzen, Stärken und Ressourcen verfügen. Sie geht davon aus, dass Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung in ihren eigenen Angelegenheiten als Expertinnen und Experten kompetent agieren können. In ihrer Entwicklung zu mehr Selbstorganisation und Selbstvertretung brauchen sie zielführende Unterstützung, die es ihnen ermöglicht, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen. In diesem Zusammenhang wird auf das grundgesetzlich verankerte Benachteiligungsverbot hingewiesen (Art. 3, Abs. 3, S. 2 GG). Dem Lehrpersonal kommt dabei die Aufgabe zu, „zur Entdeckung und (Wieder-)Aneignung eigener Fähigkeiten, Selbstverfügungskräfte und Stärken anzuregen, [die Schülerinnen und Schüler] zu ermutigen, zu stärken sowie konsultativ und kooperativ zu unterstützen, Kontrolle, Kontrollbewusstsein und Selbstbestimmung über die eigenen Lebensumstände zu gewinnen“ (Theunissen, 1998). Schülerinnen und Schüler begreifen sich als kompetente Akteurinnen und Akteure, die sich neue Lebensbereiche durch verschiedene Aneignungsmöglichkeiten selbst erschließen. Dabei agieren sie aktiv und weitestmöglich selbstbestimmt. Das Empowerment-Konzept geht davon aus, dass sie ihre eigenen Interessen formulieren, eigenständig sowie selbstverantwortlich Entscheidungen für persönliche Obliegenheiten treffen und eigene Belange für sich selbst regeln können.

Die bisherige Praxis des Umgangs mit geistig behinderten Menschen offenbart die „Problematik der Verdinglichung und Fremdbestimmung“ (Theunissen, 2002) und wird von der Empowerment-Bewegung kritisch gesehen.

Stärken-Perspektive

Mit dem Ziel, individuelle und soziale Ressourcen weiterzuentwickeln, werden positive Eigenschaften wie Begabungen, Talente, Fähig- und Fertigkeiten, Kapazitäten, physische und psychische Gesundheit sowie persönliches Wohlbefinden gewürdigt und genutzt. Damit wird das Recht auf Autonomie anerkannt, und Subjektivität sowie Potenzialität werden respektiert. „Eine zentrale Aufgabe der Praxis ist es, individuelle und soziale (z.B. Umfeld-Ressourcen) zu erschließen, um über eine Förderung und Unterstützung einer allseitigen Persönlichkeitsentwicklung hinaus den Weg für haltgebende Strukturen zu ebnen, die es dem Einzelnen erlauben, an gesellschaftlichen Bezügen zu partizipieren und ein autonomes Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten zu verwirklichen.“ (Theunissen, 2016)

Essenziell für gelingende Partizipation sind

  • der Aufbau sozialer Beziehungen,
  • die individuelle Förderung zur selbstständigen Bewältigung alltäglicher Anforderungen sowie
  • die Fähigkeit zur selbstbestimmten Inanspruchnahme personaler Assistenz.

Das gemeinsame Lernen sollte die Ausweitung der Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit aller Schülerinnen und Schüler sowie der motorischen Kompetenzen und die Entwicklung eigener Handlungsoptionen ermöglichen.

Referenzen

Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – ISL (o. D.). https://www.isl-ev.de.

KMK (2021). Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.03.2021) https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2021/Empfehlung_Geistige_Entwicklung.pdf.

Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V. (o. D.): http://www.menschzuerst.de/.

Netzwerk Leichte Sprache (2013). Bücherliste in leichter Sprache: www.menschzuerst.de/media/pdf/Buecher-Liste_November_2013.pdf.

Theunissen, G. (2016). Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten, Bad Heilbronn: Verlag Julius Klinkhardt.

Theunissen, G. (1998): Kooperationsdiskurs ein methodisches Instrument des Empowerment-Konzepts in der Behindertenarbeit, in: Goll, H. u. J.: Selbstbestimmung und Integration als Lebensziel. Hammersbach: Verlag Wort im Bild.