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Je nach Ausprägung wird die Autismus-Spektrum-Störung dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung oder geistige Entwicklung zugeordnet. Es gibt nicht die Autistin oder den Autisten – vielmehr ist jeder Mensch mit Autismus-Spektrum-Störung anders. Die Begrifflichkeit Autismus-Spektrum ergibt sich aus der Vielfalt und Variabilität autismusspezifischer Besonderheiten. Biologische und insbesondere genetische Faktoren werden als ursächlich für die Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörungen angenommen; psychosoziale Faktoren scheinen jedoch die Intensität des Auftretens der Symptome zu beeinflussen. Bei nicht-autistischen Menschen werden vom Gehirn Informationen aus einer hohen Zahl von Reizen herausgefiltert. Wahrgenommen wird, was in diesem Moment, in dieser Situation bedeutsam ist. Beispielsweise werden körpereigene Funktionen von nichtautistischen Menschen nur wahrgenommen, wenn sie sich unmittelbar auf diese konzentrieren oder wenn die Funktionen außer Tritt geraten. Für Menschen mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung ist das nicht gegeben. Reize werden kaum diskriminiert oder ausgeblendet, vielmehr als nahezu gleichwertig wahrgenommen. So wird nicht selten aus diesen Informationen falsch generiert. Gleichzeitig führt die unzureichende Diskriminierung von Reizen zu einer permanenten Reizüberflutung und infolgedessen zu extremem Stress und gedanklichem Chaos. Es kommt zum sogenannten Overload. Stereotypien wie Manierismen, Flattern, Wedeln, Schaukelbewegungen, aber auch selbstverletzendes Verhalten dienen dann dazu, dass überflutete Nervensystem zu beruhigen. Nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) zählen die verschiedenen Formen von Autismus zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen mit unter anderem den folgenden Merkmalen:
- Auffälligkeiten in der Kommunikation und Sprache, unter anderem kein oder ein nur eingeschränktes Verständnis für nonverbale Kommunikation (fehlender Blickkontakt oder Starren, Mimik, Gestik, Tonfall und Ähnliches); monotone Sprachmelodie, belehrend klingend, ungewöhnlicher Wortgebrauch; mangelndes Verständnis für Ironie, Witz und Redewendungen
- Auffälligkeiten im Sozial- und Kontaktverhalten, unter anderem fehlende, ungewöhnliche oder unpassende Techniken und Strategien zur Kontaktaufnahme und -gestaltung; mangelnde Fähigkeit, soziale Situationen zu erfassen und korrekt zu interpretieren, fehlende Theory of Mind (siehe dazu: https://lexikon.stangl.eu/511/theory-of-mind). Dies führt mitunter dazu, dass psychologisierende Geschichten und Interpretationen kaum verstanden werden.
- Fixierung auf bestimmte Interessen und Aktivitäten (mangelnde Flexibilität); intensive Beschäftigung mit Themen, die oft ungewöhnlich wirken; teilweise zwanghaft und für die jeweiligen Gegenstände untypisch wirkende, sich wiederholende Beschäftigung mit diesen; extremer Stress bei Veränderungen, insbesondere bei der Abweichung von gewohnten Abläufen, was zu Stereotypien, Manierismen und Ähnlichem führt. Das symbolische Spiel scheint für die Betreffenden bedeutungslos zu sein (siehe dazu: https://www.icd-code.de/icd/code/F84.0.html).
Der Kontext Schule
Bereits für neurotypische Kinder kann die Schule eine große Herausforderung sein. Jeden Tag früh aufstehen, pünktlich in der Schule sein, an alles denken, aufmerksam zuhören, den Schulstoff und die Hausaufgaben bewältigen… Für Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung münden diese Herausforderungen schnell in einer Überforderung, nicht, weil sie den Schulstoff intellektuell nicht meistern können, sondern weil ihre spezielle Art des Denkens und Wahrnehmens sie vor Hürden stellt.
Was sind die typischen Herausforderungen, mit denen ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung an der Regelschule konfrontiert wird?
Entfernung vom vertrauten Zuhause
Den sicheren Hafen morgens zu verlassen, fällt jedem Kind manchmal schwer. Für ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung ist dies aber besonders schlimm, da es nicht genau weiß, was auf es zukommt. Welche Kinder wird es auf dem Schulweg antreffen? Welcher Schulstoff wird durchgenommen? Kann es alles bewältigen? Was, wenn etwas nicht so läuft wie gewohnt? Ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung kann mit all diesen Unsicherheiten nicht gut umgehen und entwickelt vor lauter Bedenken schnell Angstgefühle. Eine besondere Herausforderung stellen Projektwochen und Sporttage dar, somit Tage, an denen alles neu und ungewohnt ist.
Reizüberflutung
Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung reagieren sehr sensibel auf Lärm und andere sensorische Eindrücke. In einer Klasse mit zwanzig oder mehr Kindern kann es schnell zu laut und zu hektisch werden. Auch die vielen visuellen Eindrücke in einem Klassenzimmer sind manchmal zu viel für ein autistisches Kind. Sich unter diesen Umständen zu konzentrieren, ist sehr schwierig. Je ruhiger und übersichtlicher eine Klasse und das Schulzimmer sind, desto niedriger fällt das Stresslevel für ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung aus und desto besser kann es sich auf den Schulstoff konzentrieren.
Überforderung der exekutiven Funktionen
Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung zeigen häufig Defizite bei den exekutiven Funktionen. Diese kommen in der Schule immer wieder zum Tragen. Die folgenden Beispiele verdeutlichen dies: nicht hereinrufen, wenn man etwas sagen möchte, sondern zuerst aufzeigen und warten, bis man an der Reihe ist, überlegen, wie ein Wort geschrieben wird und nicht drauflos schreiben, neue Lösungswege suchen, wenn eine Strategie nicht zum gewünschten Erfolg führt, sich darauf einstellen, wenn die Lehrerin krank ist und eine andere Lehrperson einspringt.
Pausen
Jede unstrukturierte Situation bedeutet für ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung Stress. Somit können die Pausen nicht zur Regeneration genutzt werden. Hier wird es nämlich nicht nur mit Lärm, sondern auch mit sozialen Herausforderungen konfrontiert. Das Kind möchte vielleicht mit den anderen Kindern spielen, weiß aber nicht so recht, wie. Vielleicht wird es auch von anderen Kindern gehänselt. All dies führt zu Überforderung.
Maßnahmen zur Erleichterung
Wie können wir einem Kind mit Autismus-Spektrum-Störung dazu verhelfen, dass es die Schule trotzdem meistert? Wie kann auf sein Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit und Struktur im Schulumfeld eingegangen werden?
Möglichst gleicher Ablauf
Morgens ist die Zeit zwischen dem Aufstehen und der Schule besonders kritisch, da Ihr Kind die Unsicherheit spürt, die ein neuer Tag mit sich bringt. Ein klarer Ablauf, der möglichst wenig gestört wird, ist hier sehr hilfreich. Vermutlich haben Sie auch schon erlebt, dass Ihr Kind während des Frühstücks oder beim Bereitmachen wegen einer scheinbaren Kleinigkeit explodiert. Manchmal enden solche Situationen sogar in der Weigerung, zur Schule zu gehen. Ihr Kind handelt nicht so, um Sie zu ärgern, sondern weil ihm in dem Moment alles zu viel wird. Am liebsten würde es zu Hause in seinem vertrauten Umfeld bleiben. Deshalb ist ein ungestörter, immer gleichbleibender Ablauf so wichtig.
Wenn nötig, können Sie Ihr Kind auch eine Weile lang in die Schule begleiten. Das gibt ihm wenigstens auf diesem kurzen Abschnitt des Tages zusätzliche Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Versichern Sie Ihrem Kind auch immer wieder, dass es von einer Bezugsperson abgeholt wird, falls es ihm in der Schule nicht gut geht.
Informieren der Lehrpersonen
Informieren Sie alle Personen in der Schule, die mit Ihrem Kind zu tun haben. Es ist niemandem geholfen, wenn Sie die Diagnose oder den Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung für sich behalten. Nur in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen kann auch in der Schule auf die Besonderheiten Ihres Kindes eingegangen werden.
Manchmal fehlen den Lehrpersonen Erfahrungen in Bezug auf die Störung, und sie wissen nicht, wie sie das Kind am besten unterstützen können. Sie als Eltern kennen Ihr Kind am besten und wissen, was die größten Stolpersteine sind. Durch einen regelmäßigen und offenen Austausch mit den Lehrpersonen können Sie Ihre Erfahrung weitergeben. Nur so kann ein optimales Umfeld geschaffen werden, damit Ihr Kind in der Schule zeigen kann, was in ihm steckt. Dies beinhaltet Anpassungen im Unterricht, zum Beispiel vorhersehbare Abläufe, einen klaren Wochenplan, einen festen Arbeitsplatz und einen Rückzugsort. Ebenfalls hilfreich ist eine individuelle sonderpädagogischen Förderung, zum Beispiel eine Schulbegleitung für bestimmte Stunden, oder Psychomotorik. Wenn nötig, können Sie sich hierzu auch Unterstützung beim zuständigen schulpsychologischen Dienst holen.
Informieren der Klassengemeinschaft
Wenn Ihr Kind einverstanden ist, sollte auch die Klasse informiert werden. Tauschen Sie sich dazu mit der Lehrperson aus. Es bestehen viele Möglichkeiten, das Thema Anderssein in den Unterricht einzubauen. Von Carol Gray (2013) gibt es mitunter einen eigens dafür geschaffenen Unterrichtsplan, um den Schülern in einer Regelklasse das Thema Autismus-Spektrum-Störung näher zu bringen: „Der sechste Sinn II: Ein Unterrichtsplan zum Thema Autismus“. Auch der Kurzfilm „Erstaunliche Dinge geschehen“ eignet sich gut, um Kindern die Thematik zu erklären. Falls Ihr Kind Mühe hat, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen, kann es hilfreich sein, wenn ein anderes Kind bereit ist, in den Pausen als Begleitung zu fungieren.
Unterstützung bei den Hausaufgaben
Unterstützen Sie Ihr Kind in Bezug auf die Hausaufgaben, vor allem in den Bereichen der Planung und des Strukturierens. Viele Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung haben Mühe, selbstständig zu planen beziehungsweise, sich an Pläne zu halten. Deshalb müssen Sie darauf achten, dass das Kind sich nicht in den Hausaufgaben verliert oder vergisst, rechtzeitig anzufangen.
Genügend Zeit zur Regeneration
Gönnen Sie Ihrem Kind genügend freie Zeit nach der Schule, damit es sich, wenn nötig, zurückziehen und von den vielen Sinneseindrücken erholen kann. Ein volles Freizeitprogramm ist für ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung eher kontraproduktiv. Dies gilt nicht für sein Interessensgebiet. Wenn es beispielsweise gerne stundenlang mit Legosteinen baut, dann dient ihm dies ebenfalls zur Erholung und Regeneration.
Umgang mit Tagen, an denen etwas anders läuft als geplant
Projektwochen, Sporttage und alles, was anders läuft als sonst, sollten möglichst früh angekündigt und mit dem Kind vorbesprochen werden. Auch hier dreht sich vieles wieder um das Thema Vorhersehbarkeit. Visualisieren Sie den Ablauf und machen Sie Ihrem Kind klar, dass es sich nur um einen begrenzten Zeitraum handelt. Vielleicht hilft es Ihrem Kind schon, wenn es weiß, dass es mit einem guten Freund in derselben Gruppe ist. Vielleicht aber braucht es Ihre Begleitung oder zumindest die Option, dass Sie es jederzeit abholen können. Ein sicherer Rückzugsort ist auch immer hilfreich. Wenn Sie merken, dass das Kind völlig abblockt, können Sie mit der Lehrperson über eine Befreiung von einer Verpflichtung nachdenken.
Vieles hängt von den Lehrpersonen und deren guten Willen ab. Erfahrungsgemäß sind Lehrkräfte offen für die Problematik und bemühen sich gerne darum, ein geeignetes Umfeld zu schaffen. Falls Ihr Kind trotz aller Anstrengungen an der öffentlichen Schule unglücklich ist, gibt es noch die Option der Privatschule respektive der Förderschule. Lassen Sie sich Zeit, um sich alle Schulen, die in Frage kommen, in Ruhe anzuschauen. Kleine Klassen und Lehrpersonen mit spezifischem Wissen im Bereich Autismus-Spektrum-Störung sind sicher wichtige Voraussetzungen. Falls Ihr Kind Interessen in einem Spezialgebiet hat, kann eine Schule, die sehr individuell auf Interessen und Stärken eingeht, das Richtige sein.
Ihr Kind verbringt viel Zeit in der Schule. Deshalb ist es wichtig, dass diese prägenden Jahre von allen Seiten gut begleitet werden. So kann Ihr Kind sein Potential entfalten und zu einer robusten Persönlichkeit heranwachsen.
Möchten Sie mehr über die Störung erfahren und wissen, was Sie zu einem guten Umfeld für das Kind beitragen können? Dann melden Sie sich bei uns. Wir beraten und unterstützen Sie gerne. Nehmen Sie unverbindlich Kontakt mit uns auf.