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Die Corona-Pandemie hat Kinder und Jugendliche gezwungen, abseits der Schulen zu Hause in ihren eigenen vier Wänden zu lernen. Idealerweise stellte das Homeschooling einen Ersatz für den Schulbesuch dar, die Realität sah in vielen Familien jedoch anders aus. Die notwendigen technischen, zeitlichen und räumlichen Voraussetzungen waren nicht in jedem Haushalt gegeben, und so bildeten sich während des Lockdowns erhebliche Defizite bei vielen Schülerinnen und Schülern aus. Trotz dieser Entwicklungen hat die Corona-Pandemie die Debatte um die Abschaffung der Schulpflicht neu entfacht. Befürwortende argumentieren, die Schulpflicht schließe die Bildungsfreiheit aus. Gegnerinnen und Gegner sehen eher Handlungsbedarf in den Schulen als die Notwendigkeit einer Reform der Schulpflicht.
Goethe, Mozart oder auch Bonhoeffer sind noch mit Hauslehrern groß geworden, früher ein weit verbreiteter, in Adelshäusern üblicher, aber sehr schlecht bezahlter Beruf, der beispielsweise von Herder und Nietzsche ausgeübt wurde. Erst 1938 wurde Heimunterricht mit dem Reichsschulpflichtgesetz verboten, obwohl der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi den Unterricht zu Hause für die optimale Form der Beschulung von Kindern hielt.
Ursprünglich war die Schulpflicht eine Forderung Luthers. Er erhob sie bereits 1524, aber sie fand nur in einigen protestantischen Landesteilen Deutschlands Anklang. So führte 1592 als erstes Gebiet der Welt das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken die allgemeine Schulpflicht ein, allerdings ausschließlich für Jungen. Das Königreich Württemberg war 1649 das erste Land, das so etwas auch für Mädchen umsetzen wollte, wenn auch nur als Fernziel, denn es mangelte an Schulgebäuden und an Lehrkräften, und es gab enorme Widerstände in der Landbevölkerung, die die Kinder als Arbeitskräfte erhalten wollte. 1763 führte dann Friedrich der Große mit dem Generalschulreglement die Schulpflicht für Preußen ein, der aber nur in einigen wenigen Städten entsprochen wurde.
Erst mit der Weimarer Verfassung im Jahre 1919 gab es eine für alle Kinder in Deutschland geltende Schulpflicht von acht Jahren, die mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 1949 auf neun Jahre ausgedehnt wurde (in Rheinland-Pfalz erst 1953) und zunächst nur für deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger galt, ab 1960 nach und nach auch für Kinder von Menschen mit Migrationshintergrund.
Pro Schulpflicht
Die Schulpflicht ist in Deutschland eine wichtige soziale Errungenschaft. Obwohl Eltern in der Regel wissen, was gut für ihr Kind ist, hat sich während der Corona-Pandemie gezeigt: Nicht jedes schulpflichtige Kind verfügt außerhalb der Institution Schule über ausreichende und angemessene Lernressourcen. Die Ungleichheit der Voraussetzungen ist enorm. Obwohl auch innerhalb der Schulen Unterschiede in Bezug auf unter anderem die Ausstattung zu verzeichnen sind, macht die Bedeutung von Homeschooling im eigentlichen Sinne deutlich: Homeschooling, also zu Hause von geschultem Lehrpersonal durchgeführter Unterricht, können sich nur diejenigen leisten, die gute soziale und finanzielle Voraussetzungen haben. Fällt die Schulpflicht weg, sind Kinder und Jugendliche aus finanziell schwachen Familien wieder ein Stück weiter von Bildungsgerechtigkeit entfernt, sofern ihre Eltern sie nicht zum Schulbesuch drängen.
Der Wegfall der Schulpflicht gefährdet außerdem die zeitliche Freiheit, die Kinder und Jugendliche aufgrund fester Alltagsstrukturen haben. Sind Lernen und Schule dann nicht mehr an einen begrenzten zeitlichen Rahmen gebunden, kommen sportliche, soziale oder kreative Aktivitäten möglicherweise zu kurz.
Ein starkes Argument gegen die Aufhebung der Schulpflicht ist auch die Gefahr von geistiger Indoktrination. Beschulung ausschließlich im Rahmen des Elternhauses schafft mitunter einen Nährboden für eine Radikalisierung innerhalb familiärer Strukturen. Kinder und Jugendliche erfahren besonders in öffentlichen Schulen durch den Kontakt zu Gleichaltrigen gesellschaftliche Vielfalt und demokratische Umgangsformen. Die Pluralität der Gesellschaft hautnah zu erleben und im Zuge dessen zu lernen, dass Menschen unabhängig von ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit gleichgestellt sind, ist der beste Schutz gegen Rassismus, Populismus und Extremismus.
Zuletzt gilt es die Trennung von Familienleben und Schule zu nennen. Die Aufgabe von Eltern besteht nicht darin, die Rolle von Lehrpersonen einzunehmen und Kinder nach ihrer Lernleistung zu beurteilen. Zwar ist ihre Unterstützung im Schulalltag unerlässlich, jedoch müssen Eltern ihr Kind auch unabhängig vom Lernerfolg oder von schulischen Interessen lieben und wertschätzen. Somit gilt es die Rolle von Erziehenden und Lehrenden durch die Schulpflicht zu trennen.
Contra Schulpflicht
Bildung ist für jeden Menschen gleichermaßen ein Recht und soll Kinder und Jugendliche zu mündigen, selbstständigen Mitgliedern der Gesellschaft machen. Im Rahmen der Schule kann diese Anforderung nicht für jedes Kind gleichermaßen erfüllt werden. Häufig können sich Schülerinnen und Schüler aufgrund der Umstände in Schulen nicht auf das Lernen konzentrieren. Wenn Kinder oder Jugendliche in der Schule beispielsweise unter sozialen Schwierigkeiten leiden, wird die Schulpflicht zum Schulzwang. Obwohl sie in einem solchen Fall am erfolgreichen Lernen gehindert werden, untersagt die Schulpflicht das Fernbleiben vom Unterricht. Eltern und Kinder machen sich im Zweifelsfall strafbar. Ein Wegfall der Schulpflicht in Deutschland bedeutet nicht, dass Kinder und Jugendliche nicht lernen. Eltern oder Hauslehrkräfte können unter Umständen einen ebenso guten Job machen wie Lehrkräfte an Schulen, sofern sie motiviert, fachlich qualifiziert und pädagogisch fähig sind. Die Überwachung dieser Qualifikationen muss im Sinne der Fürsorgepflicht dennoch staatlich geregelt werden.
Die Schule erfüllt jedoch nicht nur den Zweck des Kompetenz- und Wissenserwerbs, sondern ist auch ein Ort sozialer Interaktion. Dies für Kinder und Jugendliche auch beim Wegfall der Schulpflicht zu gewährleisten, ist gut vernetzten Familien möglich. Abwechslungsreiche soziale Interaktionen bilden die Grundlage für ein gesundes soziales Selbstbewusstsein und die Bildung einer Identität.
Die folgenden Zahlen und Fälle sprechen ebenfalls für ein Abrücken von einer Schulpflicht.
Zahlen und Fallbeispiele
Bundesweit gibt es zurzeit etwa 1000 bis 2000 Schulabsente, wie junge Menschen genannt werden, die sich der Schulpflicht entziehen oder von ihren Eltern der Schulpflicht entzogen werden. Die meisten sind Schulschwänzende, die der Schule fernbleiben, ohne dass es die Eltern wissen oder es sie interessiert.
Schweden gehört neben Deutschland, der Volksrepublik China und Nordkorea zu den wenigen Ländern mit einer gesetzlichen Schulpflicht. Berühmt wurde der folgende Fall: Zwei übergewichtige Eltern hatten zwei übergewichtige Kinder. Weil der Staat in Schweden genauso viel Erziehungsrecht hat, wie es den Eltern zusteht, erwirkte die Schule beim Jugendamt, dass die Kinder den Eltern weggenommen werden, mit der Begründung, dass diese nicht in der Lage seien, sie vernünftig zu ernähren. Bevor die Kinder abgeholt werden sollten, bestieg die Familie ein Schiff und wanderte nach Kanada aus, wo es keine Schulpflicht gibt.
In Halle an der Saale sprang eine 15-Jährige aus dem Fenster in den Tod, weil die Polizei sie in die Schule zwingen wollte, wo sie jahrelang gemobbt worden war.
In Hamburg ging der Fall Tanja Gwiasda durch die Presse: Ihr Sohn wurde immer wieder in der Klasse gemobbt, wollte dort nicht mehr hin und erkrankte. Zu Hause lernte er unter Anleitung der Mutter. Tanja Gwiasda gehört zu einer Gruppe von Eltern, den Freilernern, die die Schulpflicht als Relikt aus den vergangenen Jahrhunderten ansehen.
Regelungen in anderen Ländern
Die Schulpflicht beinhaltet die Pflicht, zum Lernen ein Schulgebäude aufzusuchen, und nicht etwa die Pflicht zum Lernen an sich. Österreich und die Niederlande haben daher keine Schulpflicht, sondern eine Unterrichtspflicht, der auch außerhalb eines Schulgebäudes entsprochen werden kann. In Irland, Italien und Spanien besteht für die Bildungsfreiheit sogar Verfassungsrang. Dänemark hat die Schulpflicht bereits 1855 abgeschafft und stattdessen ein Bildungsrecht in seiner Verfassung verankert, das beim Kind liegt und über das sich die Eltern nicht hinwegsetzen dürfen. In Kanada, Australien, Neuseeland und in den USA gibt es keine Schulpflicht, sondern eine Unterrichtspflicht, die auch von den Eltern erfüllt werden kann, was teils religiöse, teils regionale Ursachen hat, weil die nächste Schule mitunter zu weit von der Farm entfernt liegt. Mit der Möglichkeit, mit einer Lehrkraft per Internet und Skype zu lernen, greift dort Homeschooling wie auch in Kanada und Australien rasant um sich.
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