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Geschlechtersensible Bildung in der Schule

„Die Menschenwürde ist die wichtigste Werteentscheidung des Grundgesetzes. Sie kommt allen Menschen allein schon kraft ihres Menschseins zu und ist unantastbar. Somit ist auch Schule kein wertneutraler Ort. Das pädagogische Handeln in Schulen ist von demokratischen Werten und Haltungen getragen, die sich aus den Grundrechten des Grundgesetzes und aus den Menschenrechten ableiten lassen.“ (Kultusministerkonferenz, 2018, S. 1)

 

Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa 160.000 intergeschlechtliche Menschen, darunter etwa 22.000 Kinder und Jugendliche, die eine Schule besuchen. Auch sie haben das Recht, dass ihnen im Schulalltag vorurteilsfrei und wertschätzend begegnet wird und sie sich nicht verstecken müssen.

Einhergehend mit dem von der Kultusministerkonferenz gesetzten Ziel findet an immer mehr Schulen ein Umdenken statt. Das Thema Intergeschlechtlichkeit ist zunehmend präsent: in der Schulordnung, im Bereich Verwaltung (beispielsweise in Formularen und Anreden), im Schulgebäude (zum Beispiel bei der Beschriftung von Toiletten und Umkleideräumen), im Schulmaterial (zum Beispiel in der Mediothek und in Schulbüchern) und im Unterricht.

Wir haben uns mit Möglichkeiten des Erreichens einer vielfaltsbewussten Pädagogik und den Ansätzen in den Bildungsplänen der Bundesländer befasst.

 

Sensibilisierung

Intergeschlechtliche Kinder werden mit körperlichen Geschlechtsmerkmalen geboren, die nicht nur männlich oder nur weiblich zuzuordnen sind. Ihr Personenstand kann trotz eindeutig intergeschlechtlicher Geschlechtsmerkmale als männlich oder weiblich eingetragen sein. Einige haben den Personenstand divers oder keinen Eintrag. Und nur hier wird den Schulen bei der Anmeldung deren Besonderheit bewusst, alle anderen intergeschlechtlichen Kinder sind auch weiterhin fast unsichtbar und finden sich meist weder in den Lernmedien noch in den Unterrichtsgesprächen wertschätzend repräsentiert. Zudem haben die Lehrenden häufig keine ausreichenden Kenntnisse über diverse Körper, intergeschlechtliche Biografien und Identitäten.

Wie für andere ist es auch für intergeschlechtliche Kinder wichtig, dass sie in Schulalltag und Unterricht wahrgenommen werden, und zwar nicht als andere, sondern als ganz normale Kinder. Aufklärungsarbeit an Schulen kann wesentlich dazu beitragen, dass die Kinder und Jugendlichen selbst besser mit ihrer Intergeschlechtlichkeit umzugehen vermögen.

Fachkräfte aus den Bereichen Schulpsychologie und Schulsozialarbeit sowie Vertrauenslehrkräfte sollten Schulungen zum Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt besuchen und Adressen für entsprechende Unterstützungsangebote für Schülerinnen und Schüler bereithalten. Und alle an Schulen Tätigen brauchen ein solides Grundwissen über Intergeschlechtlichkeit. So sollten sie etwa wissen, dass es eine Vielzahl intergeschlechtlicher Körper gibt und dass oft die Intergeschlechtlichkeit nicht schon bei der Geburt, sondern erst im Pubertätsalter erkannt wird, also in einem Alter, in dem sich die Kinder bereits an einer weiterführenden Schule befinden.

Das Basiswissen gilt es zu erwerben, bevor ein intergeschlechtliches Kind an die Schule kommt. Das erleichtert den Umgang mit dem Kind und auch mit den Eltern. Eltern erleben sich notgedrungen in der Rolle der Aufklärenden – über Intergeschlechtlichkeit, die Besonderheit ihres Kindes und ihren persönlichen Umgang damit. Wenn auf eine Information der Eltern kein überraschtes „So etwas gibt es?“ folgt, sondern ein „Wir sind informiert, wie sollen wir mit Ihrem Kind umgehen?“, entlastet dies. Zu beachten ist, dass nicht alle Eltern und Kinder einen offenen Umgang mit der Variante der Geschlechtsentwicklung wünschen. Dies gilt es zu respektieren.

 

Wie viele diverse Schülerinnen und Schüler gibt es?

Im Personenstandsgesetz ist seit 2013 festgelegt, dass bei Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, deren Geschlecht nicht eindeutig als männlich oder weiblich zugeordnet werden kann, der Geschlechtseintrag offenbleiben kann. Mit der Änderung des Gesetzes ist 2018 als vierte Möglichkeit der Personenstand divers hinzuzugekommen. Da diese Optionen auch nachträglich im Geburtenregister eingetragen werden können, ist davon auszugehen, dass es in den Schulen Kinder gibt, die entweder keinen oder den Personenstand „divers“ haben. Die Schulstatistiken gehen sehr unterschiedlich mit der Thematik um. In einigen Bundesländern werden die diversen Schülerinnen und Schüler durch ein automatisiertes Zuordnungsverfahren oder durch Schulentscheidung den männlichen oder den weiblichen Schülerinnen und Schülern zugeordnet. In einigen Bundesländern gibt es nur Zahlen für weibliche und männliche Schülerinnen und Schüler mit einem Hinweis, dass diverse Schülerinnen und Schüler nicht ausgewiesen werden, in mehreren Bundesländern fehlt auch dieser Hinweis. Das bedeutet: Es liegen keine konkreten Zahlen vor, was das Handeln in den Schulen stark beeinflusst.

 

Rahmenlehrpläne und Unterricht

Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist mittlerweile Bestandteil der Rahmenlehrpläne aller Bundesländer. Es gibt jedoch große Unterschiede bezüglich der inhaltlichen Tiefe, mit der dieses Thema behandelt werden soll, und der Zuordnung zu bestimmten Fächern.

Inwieweit das Thema Intergeschlechtlichkeit an Schulen tatsächlich angemessen behandelt wird, ist fraglich. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Unsicherheiten, etwa bei der gelungenen Umsetzung im Unterricht, können entstehen, wenn das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden nicht ausreichend beachtet wird.

Eine Beschränkung auf das Fach Biologie wird der Thematik nicht gerecht, denn bei Intergeschlechtlichkeit handelt es sich nicht allein um körperliche Besonderheiten, sondern um ein hoch tabuisiertes Thema, das in vielen gesellschaftlichen Bereichen zur Diskriminierung von Menschen führt. Schon deswegen trauen sich einige Lehrkräfte nicht an das Thema heran. Auch kommt Intergeschlechtlichkeit in vielen Schulbüchern nicht vor, und die wenigen geeigneten Materialien, die es bereits gibt, sind nicht leicht zu finden.

Die hier relevante Kulturhoheit der Länder beruht auf dem Deutschen Grundgesetz, vor allem auf Artikel 30 (Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben sind Ländersache) und Artikel 5 (Freiheit der Lehre). Demzufolge gibt es in jedem Bundesland ein eigenes Schulgesetz, ein eigenes Schulsystem und eigene curriculare Vorgaben. Die KMK (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) koordiniert die Zusammenarbeit der Länder unter anderem durch Beschlüsse, Empfehlungen oder Vereinbarungen.

Alle Schulgesetze der Länder fußen auf dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Vor allem die Artikel 1 bis 3 finden sich sinngemäß in den Schulgesetzen wieder. In Niedersachsen heißt es beispielsweise: „Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen, (…) ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten“ (Niedersächsisches Kultusministerium, 2013, S. 1).

Fast alle Curricula sind streng binär formuliert. Dies verdeutlicht das folgende Beispiel: „Der Sachunterricht fördert zum einen die Demokratiefähigkeit im Sinne von Mündigkeit, Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Solidarität und Gleichberechtigung, zum anderen trägt er zur Persönlichkeitsbildung der Schülerinnen und Schüler bei und berücksichtigt hierbei auch die Vielfalt sexueller Identitäten“ (Niedersächsisches Kultusministerium, 2017, S. 5). Das liegt sicher in erster Linie daran, dass Curricula nur in großen zeitlichen Abständen aktualisiert werden und daher in fast allen Bundesländern mehr als fünf Jahre alt sind. Allerdings besteht die Leitlinie, überall da, wo von Schülerinnen und Schülern oder Mädchen und Jungen die Rede ist, intergeschlechtliche Kinder mitzudenken.

 

Hinweise für eine geschlechtersensible Erziehung und Bildung

Grundschule

Bei der Behandlung des Themas Geschlecht im Sachkundeunterricht muss auch Intergeschlechtlichkeit thematisiert werden. Gleichzeitig lässt sich im Deutschunterricht ein Buch über Intergeschlechtlichkeit als Klassenlektüre lesen, in dem das Thema vorurteilsfrei behandelt wird.

Auch für Grundschulen gibt es Materialien zur Sexualkunde, die geschlechtersensibel sind und Diversität positiv darstellen. Intergeschlechtlichen Kindern kann es dadurch leichter fallen, ihre körperliche Besonderheit zu verstehen und sich so zu akzeptieren, wie sie sind.

 

Weiterführende Schulen

Hier bieten verschiedene Fächer die Möglichkeit, die unterschiedlichen Aspekte von Intergeschlechtlichkeit zu thematisieren:

Im Biologieunterricht lässt sich Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass körperliche Geschlechtlichkeit einer großen Vielfalt unterliegt. Thematisieren lässt sich hier auch die Ausbildung einer geschlechtlichen Identität, die der Körperlichkeit entsprechen kann, aber nicht in jedem Falle muss.

Weitere Aspekte der Intergeschlechtlichkeit lassen sich in den Fächern Ethik und Sozialkunde aufgreifen, etwa, wenn es um das eigene Ich, um Beziehungen zwischen den Geschlechtern, um Ausgrenzung oder Mobbing geht. Auch hier muss geschlechtliche Vielfalt immer mitgedacht werden, vor allem, wenn geschlechtliche Selbstbestimmung thematisiert wird.

Im Fach Politik können am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit Intergeschlechtlichkeit Menschenrechtsverletzungen an XY-Frauen oder die Genitalverstümmelungen an intergeschlechtlichen Babys thematisiert werden.

Im Fach Deutsch lassen sich durch die Analyse von Gedichten oder Zeitungsartikeln mit Bezug zu Intergeschlechtlichkeit Perspektiven erweitern, und im Fach Kunst kann der Blick von Künstlerinnen und Künstlern auf intergeschlechtliche Körper Inhalt einer Unterrichtseinheit sein.

In vielen Regionen in Deutschland gibt es ehrenamtlich arbeitende Initiativen, die sich um Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Schulen bemühen und dabei auch Intergeschlechtlichkeit inkludieren. Für Schülerinnen und Schüler sind Workshops durch externe Personen hilfreich, da durch diese Unterrichtsform Schamgefühle vermieden werden und die Gesprächsbereitschaft gefördert wird.

Solche guten Ergänzungen zum Schulalltag sollten keine einmaligen, isolierten Veranstaltungen sein, mit denen das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ein für alle Mal in der Schullaufbahn abgehandelt wäre. Erlangtes Wissen muss bekanntlich laufend wiederholt und erweitert werden, und Einstellungen entwickeln sich nur durch kontinuierliche Arbeit.

 

Geschlechtervielfalt in Schulbüchern und pädagogischen Materialien

Auch in neu überarbeiteten Schulbüchern für den Biologieunterricht fehlt das Thema Intergeschlechtlichkeit bisweilen ganz oder wird nur kurz erwähnt. Manchmal findet sich hier noch immer eine pathologisierende Sichtweise auf Intergeschlechtlichkeit, und meist wird das Thema erst gegen Ende der Schulzeit behandelt.

Die folgende Übersicht macht daher auf pädagogisches Material aufmerksam, das ergänzend zum jeweils eingeführten Schulbuch verwendet werden kann.

 

Bildungsinitiative Queerformat (Hrsg.) (2018): Unterrichtsbausteine zum Thema Intergeschlechtlichkeit für die Grundschule zum Buch PS: Es gibt Lieblingseis von Luzie Loda. Berlin.

Elvau, Ika (2014): Inter*Trans*Express. Eine Reise an und über Geschlechtergrenzen. Münster.

Loda, Luzie (2018): PS: Es gibt Lieblingseis. Hamburg.

Lotz, Alexander (Hrsg.) (2020): Vielfalt in Sexualität und Geschlecht: Biologie Klasse 5 – 10. Berlin.

Palzkill, Birgit, Pohl, Frank G. & Scheffel, Heidi (2020): Diversität im Klassenzimmer. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Schule und Unterricht. Berlin.

Rosen, Ursula & Rosen, Ingeborg (2021): Alles divers: Unterrichtseinheiten zur Vielfalt des Lebens. Lingen.

Spahn, Annika & Wedl, Juliette (Hrsg.) (2018): Schule lehrt/lernt Vielfalt. Göttingen.

 

Referenzen

Kultusministerkonferenz (2018). Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf

Niedersächsisches Kultusministerium (2013): Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG) in der Fassung vom 3. März 1998, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. Juni 2013. Hannover.

Niedersächsisches Kultusministerium (2017): Kerncurriculum für die Grundschule. Schuljahrgänge 1 – 4. Sachunterricht. Hannover.