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Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland sind arm. Sie leben in Familien, die nur wenig Geld zum Leben haben – meist aufgrund von Arbeitslosigkeit. In der sozialpolitischen Diskussion über den Kampf gegen Armut von Kindern und Jugendlichen wird oft vergessen, dass das Bildungssystem dabei eine zentrale Rolle spielt. Armut und Bildung stehen in einem gleich doppelten Zusammenhang: Arme Kinder und Jugendliche haben geringere Bildungschancen, und fehlende Bildungsabschlüsse bergen im Laufe des Lebens ein großes Armutsrisiko. Die wenigsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt und das höchste Armutsrisiko haben Kinder und Jugendliche, die früh aus dem allgemeinbildenden Schulsystem genommen und in Schulen gedrängt werden, die geringwertige Schulabschlüsse vergeben, etwa Förderschulen.
Die Historie
Ein Blick in die Geschichte der Förderschule, die vor über einem Jahrhundert als Hilfsschule gegründet wurde, zeigt, wie aus einer Idee, die als individuelle Unterstützung gemeint war, eine Praxis der Aussonderung erwuchs, die vielen jungen Menschen dauerhaft Teilhabe und Lebenschancen verwehrt.
Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurden in Deutschland eigene Schultypen für die verschiedenen Stände etabliert. Nach Gymnasien, Wirtschaftsschulen und Volksschulen entstand um 1900 eine weitere Schulform für all jene Schülerinnen und Schüler, die von der allgemeinen Schulpflicht durch Krankheit, Obdachlosigkeit oder Behinderungen noch nicht erfasst waren. Während es zunächst Hilfsklassen gab, entwickelten sich nach und nach flächendeckend Hilfsschulen. Die damalige Idee der Sonderpädagogik war inklusiv motiviert: Kinder und Jugendliche mit Behinderung sollten am Bildungswesen teilhaben. Die Schulen sollten Schonräume sein, sichere Orte für benachteiligte Menschen.
Historische Texte aus der Anfangszeit der Hilfsschule als eigenständiger Institution zeugen davon, dass soziale Ursachen von Armut mit medizinischen Begründungen für Schulversagen einhergehen, ohne dass das eine als Ursache des anderen benannt wird oder die Wechselwirkungen deutlich gemacht werden. Die Schaffung einer separaten Institution wird damit begründet, dass die Volksschulen entlastet werden. So heißt es beispielsweise 1908 in einer Schrift über die Hilfsschule: „Für die Volksschule bedeutet die Hilfsschule Befreiung von schwachbegabten Schülern, die den Unterrichtsfortschritt hemmen und die Stimmung herabdrücken“ (Pfahl, 2008, S. 15). Doch die Hilfsschulen sollten die Schülerinnen und Schüler auch von Armutskrankheiten heilen. Auf die sozialen Probleme einzuwirken und die Lebensumstände sogenannter Sorgenkinder zu verbessern, hatte bei der Einführung der Hilfsschule eine große Bedeutung.
Seitdem beruhte die Sonderpädagogik auf der Beobachtung, Beschreibung und Aussonderung von Schülerinnen und Schülern. Sie zielte darauf ab, arme und kranke Kinder und Jugendliche, die im Unterricht auffielen, in ihrer andersartigen und unterlegenen sozialen Position wissenschaftlich zu untersuchen, zu schützen und zu verstehen: „Die Schule […] hat es mit Lernprozessen und dem daraus resultierenden Ergebnis der Leistung und des Verhaltens zu tun. Sonderpädagogik als spezielle Disziplin interessiert sich in diesem Zusammenhang für auftretende Lern und Leistungsauffälligkeiten bzw. Störungen im Werdeprozess des Menschen und deren Behebbarkeit. Ansatzpunkt der Sondererziehung ist das zu erwartende oder bereits eingetretene Lern und Leistungsversagen“, formulierte es der Bildungsrat 1973 (Pfahl, 2008, S. 21).
Der Mainstream der Sonderpädagogik versteht sich damals wie heute als Fürsprecher von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Benachteiligungen. Die Tatsache, dass die Segregation die Schülerinnen und Schüler in ihren Bildungs und Lebenschancen im Vergleich zu Gleichaltrigen benachteiligt, wird von Expertinnen und Experten zwar erkannt – grundlegend in Frage gestellt wurde die Praxis schulischer Aussonderung durch den Berufsverband der Sonderpädagogik deshalb aber noch nicht.
Abschieberaum statt Schonraum?
Der Schonraum wird jedoch mitunter zu einem Abschieberaum. Circa 500.000 Kindern und Jugendlichen wird heute ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert. Bei den meisten werden Lernbeeinträchtigungen diagnostiziert, beispielsweise Konzentrationsstörungen, Lern und Leistungsrückstände oder eine verzögerte Sprachentwicklung. Hinter dieser Diagnose verschwindet teilweise die von den Kindern unverschuldete sozioökonomische Benachteiligung: Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen und auch im inklusiven Kontext stammt aus armen Familien. Letzteres betrifft vor allem junge Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung. Die Mehrheit ihrer Eltern ist arbeitslos oder geht einfachen Tätigkeiten in geringfügiger Beschäftigung nach. Überdurchschnittlich häufig sind die Schülerinnen und Schüler dabei nichtdeutscher Herkunft. An die Stelle dieses Blicks auf die soziale Lage der Kinder und Jugendlichen tritt häufig die Zuschreibung individueller Defizite, die die kognitive und biologische Konstitution erfasst.
An den Feststellungsverfahren und Schulüberweisungen beteiligte Fachleute wie Lehrkräfte, Schulpsychologinnen und -psychologen sowie Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen stellen den Kindern (und ihren Eltern) dabei bis heute eine individuelle Förderung in Aussicht. Die Realität sieht jedoch nicht immer so aus. Viele der Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne einen qualifizierenden Abschluss, und entsprechend wechseln die meisten anschließend in eine Reihe von nicht qualifizierenden Maßnahmen statt in eine Berufsausbildung oder in Arbeit.
Große Teile der Schülerschaft bleiben von Bildungs und Berufswegen ausgeschlossen. Durch ihre häufige Ausbildungslosigkeit sind sie im besten Fall auf Erwerbstätigkeiten festgelegt, die mit erhöhten Arbeitslosigkeits und Armutsrisiken verbunden sind. Doch gerade der Wettbewerb um gering qualifizierte Arbeit ist besonders hart. Ungelernte sind ungefähr doppelt so häufig vom Erwerbsleben ausgeschlossen wie der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Zudem sind sie häufiger von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen und finden oftmals keine existenzsichernde Beschäftigung.
Seitens der Vereinten Nationen wurde im Jahr 2007 das deutsche Sonderschulwesen scharf kritisiert. Dieses verletze das Menschenrecht auf Bildung. Alle Kinder und Jugendlichen müssten gleichermaßen die Chance auf einen Schulabschluss erhalten. Der UNBildungsbericht bemängelte zudem, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und Benachteiligungen würden in Deutschland durch den Besuch von Förderschulen stigmatisiert. Dies verweigere ihnen wichtige Bildungserfahrungen.
Die 2009 von der Bundesregierung ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention schreibt in Artikel 24 fest, dass das Recht auf Bildung und Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen erst durch ein inklusives Schul und Bildungswesen gewährleistet ist. Die Unterzeichnerstaaten haben sich verpflichtet, eine entsprechende Bildungspolitik unabhängig von der Kostenfrage zu betreiben.
Die Idee, Kinder und Jugendliche nach gesundheits und armutsbedingten Lernrückständen getrennt in einem gegliederten System zur Schule zu schicken, steht deshalb seitdem verschärft zur Diskussion. Inklusive Ansätze haben sich zunehmend durchgesetzt. Teilweise wird jedoch deren Unzulänglichkeit erkannt und eine Rückkehr zur Beschulung in einer Förderschule gefordert.
Viele andere europäische Länder vermeiden frühe Ausleseprozesse oder fördern gesundheitlich, sozial oder wirtschaftlich benachteiligte Schülerinnen und Schüler an ihrer Regelschule aktiv. Eine Bekämpfung von Bildungsarmut durch die Auflösung von Sonderschulen und die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler in einem egalitären Bildungswesen kann die gesellschaftliche Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen stärken. So können sie als Erwachsene Demokratie mit gestalten und ihrer sozialen Ausgrenzung besser entgegenwirken – auch wenn ihre Ausgangspositionen nicht die gleichen sind. Dies ist zumindest der Ansatz, doch auch hier bestehen Defizite in der Umsetzung.
Erkenntnisse aus der Hirnforschung
Dass das Gehirn von Jugendlichen ausschließlich wächst und neue Verbindungen entwickelt, bis es ausgewachsen ist und ein langsamer Verfall einsetzt, ist eine weitverbreitete Vorstellung. In der Realität gestaltet sich die Hirnentwicklung allerdings wesentlich komplexer. Sie ist durch eine Abnahme der grauen Substanz charakterisiert, was zu einer effizienteren Funktion beiträgt.
An der Universität Greifswald wurde nun ermittelt, dass genau dieser Prozess bei Jugendlichen von Mitte der neunten bis Mitte der zehnten Klasse umso geringer ausfällt, je mehr soziale Ausgrenzung die Schülerinnen und Schüler wahrnehmen. Dies gilt insbesondere in Bereichen des sogenannten Social Brains, das mit der Navigation in komplexen sozialen Umgebungen verbunden ist und die Interaktion und Kooperation mit anderen erleichtert.
Analysiert wurden Veränderungen in verschiedenen Hirnregionen der teilnehmenden pubertierenden Jugendlichen im Hinblick auf den Einfluss von Schulzugehörigkeit und sozialer Ausgrenzung in der Schule. Dabei zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen sozialer Ausgrenzung (und Nichtzugehörigkeit) und dem Volumen der grauen Substanz in der linken Inselrinde, eines Teils der Großhirnrinde.
Zusammenfassend zeige die Studie, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass soziale Ausgrenzung in der Schule die strukturelle Entwicklung der grauen Substanz der linken Inselrinde von Schülerinnen und Schülern negativ beeinflusse. Diese Ergebnisse deuteten darauf hin, dass ungünstige soziale Faktoren die Entwicklung des Gehirns langfristig beeinträchtigen könnten.
Lehrerinnen und Lehrer sollten sich somit dessen bewusst sein, dass soziale Ausgrenzung in der Klasse schädliche und langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung eines Kindes hat. Sie kann die Reifung des sozialen Gehirns so beeinträchtigen, dass sie die Interaktion und Kooperation einer Schülerin oder eines Schülers mit anderen behindert.
Zugleich gibt die Studie Aufschluss darüber, wie die Entwicklung des sozialen Gehirns unterstützt und wie die soziale Kompetenz in der Schule gefördert werden kann. Um Schäden zu verhindern, ist ein integratives Schulklima elementar, das durch qualitativ hochwertige Beziehungen und ein geringes Maß an sozialer Ausgrenzung gekennzeichnet ist. Dies spielt in dem zuvor beschriebenen inklusiven Szenario ebenfalls eine Rolle. Es ist somit in jeder Beschulungsform eine hohe Herausforderung gegeben, wenn es darum geht, allen gerecht zu werden. Deshalb bedarf es hier eines kritischen Hinschauens und der Wahrnehmung aller Bedürfnisse, damit langfristig die individuellen Hintergründe nicht mehr ausschlaggebend für den Lebenslauf sind.
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Referenzen
Hänsel, D., Schwager, H. J. (2004). Die Sonderschule als Armenschule. Vom gemeinsamen Unterricht zur Sondererziehung nach Braunschweiger Muster. Bern: Peter Lang.
Pfahl, L. (2008). Die Legitimation der Sonderschule im Lernbehinderungsdiskurs in Deutschland im 20. Jahrhundert. Berlin: Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, Forschungsschwerpunkt Bildung, Arbeit und Lebenschancen, Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt.